Ruth Herzberg für Printmedien

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BEZE
Berliner Zeitung vom 30.01.2021 Seite 28 / MAGAZIN
Die große Ernüchterung
Eine Trennung ist immer schlimm, aber jetzt erst recht. Denn in pandemischen Zeiten fehlt die übliche Ablenkung vom Liebeskummer. Entsteht da bloß der blanke Frust
In ihrem Buch "Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht" schreibt Andrea Petkovic: "Während der wie auch immer gearteten Lebenskrisen, die wir alle erleben, verliert man, glaube ich, am wenigsten sich selbst als vielmehr die Menschen um einen herum. Das heißt weniger, dass sie weggehen, aber sie erreichen uns nicht mehr. Der Spiegel unserer Identität geht vorübergehend kaputt. Wir drehen uns im Kreis um uns selbst und alle unsere Makel treten Tango tanzend in den Vordergrund, während all unsere positiven Eigenschaften in tiefen Schlaf verfallen."
Anfang Juni letzten Jahres, kurz nach Ende des ersten "Lockdowns", also der ersten ernsthaften Isolierungsphase, spitzten sich die Dinge zu, trat unerwartet das schon länger Erwartete ein, und ich wurde verlassen. So, dass im Folgenden zwei Krisen aufeinandertrafen. Die äußere, durch das Virus verursachte "aktuelle Situation" und meine persönliche. Ich verlor also den mehr oder weniger gesicherten Zugang zu Ressourcen wie Sex, Zweisamkeit und Austausch, und dass in einer Zeit, da die Partnersuche aus hygienepolitischen Gründen nur sehr eingeschränkt möglich ist. Es also keinen Zugang zum Zugang gibt, gewissermaßen.
Da dieser Zugang jedoch auch während der Beziehung zunehmend an Bedingungen geknüpft wurde und die Beziehung sowieso kompliziert war, war deren Ende schon länger absehbar und im Hinblick auf meinen Seelenfrieden vielleicht sogar wünschenswert. Ich freue mich aber, dass unser endgültiges Zerwürfnis, also der endgültige Abgang meines Partners, erst nach dem ersten Lockdown geschah. Denn wenn auch unsere Seelen nicht harmonierten, unsere Körper taten es doch, und so kam ich noch für ein paar letzte Male vor einer für meinen Geschmack viel zu langen Durststrecke in den Genuss der fleischlichen Umarmung. 
Eine Trennung ist immer schlimm. Aber jetzt erst recht. Weil es wegen der "Maßnahmen" und erst recht wegen der "verstärkten Maßnahmen" aufgrund der "aktuellen Situation" keine Ablenkung vom Liebeskummer gibt. Keine Kneipenabende, keine Clubnächte, kein Kino, kein Theater, keine Vernissagen. Und schon gar keine Partys mit spontan sich entwickelnde Wohnungs-Sit-ins.
Ihn zu vermissen mag absurd sein, sich ihn zurückzuwünschen grundfalsch. Aber so ist es eben, mangels Alternativen, und es ist auch egal, denn der kommt ganz bestimmt nicht wieder, das hat er klipp und klar in einer seiner 33 letzten SMS an mich geschrieben, und der darf auch gar nicht wiederkommen, habe ich ihm daraufhin, in einer von meinen extrem wenigen und außerordentlich knappen E-Mails geantwortet.

Er ist schon lange fort, aber die Gefühle, die sind noch daaaaaa, mangels Ablenkung, mangels Alternativen, und das ist es, was für mich den Lockdown ausmacht: Man hat die gleichen Probleme wie vorher

Ohne Ablenkung, ohne den immer wieder alles durcheinanderwerfenden Fluss des Lebens, bewegt man sich als Homeoffice-Arbeiter und Single wie das Klischee einer traumatisierten Soldatenfrau in einem neorealistischen Schwarz-Weiß-Film durch einen beinahe komplett überraschungsfreien, auf das Verrichten der überlebensnotwendigen Tätigkeiten beschränkten Alltag: Die Küchenuhr tickt und er ist verschollen und ich schäle Kartoffeln und jeden Moment kann er in der Tür stehen, vielleicht ohne Auge, ohne Arm, ohne Bein. Und die Uhr tickt und die Zeit bleibt stehen und die Jahre vergehen und ich schäle Kartoffeln und warte. Aber ich habe schon lange vergessen, worauf.
Es ist, wie es ist. Durch die Isolation, also den Wegfall des Zufalls und mangels der Gelegenheiten für das Eintreten schicksalhafter Ereignisse und neuer, magischer Begegnungen gedeihen unbehelligt die seltsamsten Gedanken. Selbst wenn ich mir ein neues Bett kaufte, fürchte ich, würde ich ihn trotzdem immer noch darin vermissen. Auch wenn ich nun mittlerweile bäuchlings, quer in der Mitte schlafe, so liegt er in manchen Träumen immer noch neben mir.

Denn es ist schwer, eine neue Platte aufzulegen, wenn es weit und breit keine neuen Platten gibt. Weil die Erinnerungen, mangels Gelegenheit, nicht mit neuen Stories überschrieben werden können, spielt das Gehirn sie wieder und wieder ab, sowie sich die Gelegenheit ergibt. Und es gibt viel zu viele Gelegenheiten: ein Lied, eine Filmszene, ein Gegenstand, ein Zitat, eine Szene in einem Buch, in dem man gerade liest.

Alles gewinnt in der Isolation an Bedeutung, weckt Erinnerungen, auf die dann weitere Erinnerungen folgen, und ehe man sich`s versieht, steckt man wieder in denselben Grübeleien. Das unterforderte, leerlaufende Gehirn sucht und findet, mangels echter Sorgen, laufend Scheinprobleme und Scheinlösungen, und zwar immer wieder dieselben. Ist das nicht sogar eine Foltermethode? Den Gefangenen wahlweise in komplette Dunkelheit und Stille zu stecken oder in einen Raum, in dem alles weiß ist. In beiden Fällen rebellieren die ruhiggestellten Sinne und treiben ihre Besitzer in den Wahnsinn. Von Lockdown zu Lockdown zeigt sich immer deutlicher, wie fragil die menschliche Psyche ist, wie schwer sie sogar die vergleichsweise minimale Reizbeschränkung verträgt. Sport soll gut sein gegen das sinnlose Kreisen der Gedanken.

Lieber selber den Block umrunden, als von Gedanken umrundet zu werden. Es haben wohl viele dieselbe Idee. Jedes Mal, wenn ich aus dem Fenster schaue, egal zu welcher Tageszeit: Immer läuft ein Jogger durchs Bild. Haben die alle Liebeskummer?
Ich gehe nicht joggen, nein, die Blöße gebe ich mir nicht, allen zu zeigen, dass ich versuche, vor meinen Gedanken davonzurennen. Ich gehe spazieren. Es hilft. Ja, man kommt dabei auf andere Gedanken, aber kaum ist der Spaziergang vorbei, sind die anderen anderen Gedanken auch wieder da. Spazierengehen kann ich ja trotzdem, mindestens eine halbe Stunde pro Tag an frischer Luft, das hat noch niemandem geschadet, und bei der Gelegenheit den Müll rausbringen kann man auch, und auf dem Rückweg einkaufen gehen.

Vielleicht treffe ich ja auch jemanden, den ich lange nicht gesehen habe, oder lerne jemand Neuen kennen, mit dem ich mich ablenken und befreien könnte? Sicherheitshalber schminke ich mich und ziehe mir was Nettes an, wenn ich rausgehe. Also eine blaue Mütze und einen neongrünen Schal und den Kunstpelzmantel mit dem Leopardenmuster. 
Früher trug ich dunkle Jacke, für den unauffälligen Heimweg im Dunklen, und darunter das Bunte für die Bar. Jetzt ist es umgekehrt. Ich habe die Hoffnung, dass man sich demnächst, mangels Bars etc., einfach direkt auf der Straße ansprechen wird. Ich hoffe es, denn die Benutzung von Dating-Seiten kommt für mich nicht infrage. Also, immer wieder, nicht infrage. Ich habe beinahe jeden mir bekannten Mann aus meiner Nachbarschaft dort entdeckt, und das hält mich davon ab, mein Profil mit zu privaten Daten auszufüllen.

Umso neugieriger bin ich, wie sich denn der Typ, mit dem ich vor zwei Jahren mal auf XYs Geburtstagsfest geflirtet habe, hier selbst darstellt. Oder mit welchem Hermann-Hesse-Zitat mein Spätiverkäufer auf die digitale Pirsch geht.
Aber wenn mir einer schreibt, dann schreibe ich nicht zurück. Schon, dass der Kandidat überhaupt ein Profil auf diesem Portal hat, sorgt dafür, dass er für mich nicht mehr infrage kommt. Ja klar, denke ich dann, der ist niedlich und er interessiert sich für mich. Aber mit wie vielen Frauen schreibt er eigentlich noch, außer mir? Außerdem traue ich mich nicht. Wo soll man sich denn treffen, und was dann?

Ich bin noch nicht bereit für neue Liebschaften. Stattdessen will ich die eingeschränkte Lage nutzen: um nachzudenken und mich eben nicht abzulenken. Also befasse ich mich damit, die Wohnung umzuräumen und Ballast auszusortieren. Außerdem auf der To-do-Liste: viel schreiben, viel schlafen, viel lesen. Musik hören, tanzen, das Alleinsein genießen. Ich geb`s zu, wenn ich nicht gerade Sehnsucht nach seinem warmen Körper habe, dann finde ich mein Leben derzeit gar nicht mal so schlecht.

Nachdem ich mich wie alle damit befasst habe, die Wohnung umzuräumen und Dinge auszusortieren, habe ich wieder mit dem Zeichnen angefangen. Manchmal finde ich es auch nicht mehr schlimm, viel allein zu sein. Welcher meiner ehemaligen Partner hätte es schon ertragen, wenn ich stundenlang versuche, "Unsere Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer" auf der Blockflöte zu begleiten.
Apropos "ertragen": Aufgrund der Isolation haben sich auch die Beziehungen zu einigen meiner Freunde geändert. Mangels Ablenkung bin ich nicht mehr imstande, die kleinen Ungereimtheiten, Missverständnisse, Unverständnisse zu ertragen, die ich vorher großzügig übersehen habe. Ja, hier und da gab es immer wieder Irritationen, die ich aber nicht so wichtig nahm: Wozu war man denn befreundet, dazu sind doch Freunde da, großzügig miteinander umzugehen, den anderen auch in seinen Schwächen zu lieben. Das ging aber nur, weil die Freundschaft vorher verdünnt war, in einer Fülle anderer Sozialkontakte. Da hat`s nicht so gestört, da fiel die Zickerei nicht so auf und ich glaubte zu wissen, was wir trotzdem aneinander hatten.

Vielleicht liegt es an der Stille, die sich über das Großstadtleben gelegt hat, dass ich meine innere Stimme nicht mehr überhören kann und will. Ich habe - aufgrund dünnerer Nerven und dadurch gesteigerter oder endlich wahrgenommener Empfindlichkeit - die Fähigkeit verloren, bestimmte Verhaltensweisen freundlich zu ignorieren. Ich kann nicht mehr: Sticheleien überhören, mich moralisch erpressen lassen, permanent bewertet werden, Anflüge von Neid und Missgunst übersehen. Ich stelle in solchen Fällen auch nicht mehr als Erstes meine Wahrnehmung infrage oder lasse sie infrage stellen, rede mir nicht mehr ein und lasse mir nicht mehr einreden, dass ich zu empfindlich wäre, dass ich harmlose Äußerungen überbewerten würde, dass er/sie es bestimmt nicht so gemeint hätte, dass er/sie einfach nur einen schlechten Tag gehabt hätte, dass man so was eben in Kauf nehmen müsste, übersehen müsste. Ich ertrage es nicht mehr und ziehe mich zurück. Aber ist das gut? Wie weit kann ein Mensch sich zurückziehen?

So weit, wie er muss. Es ist gut und richtig, sich von Menschen zu verabschieden, bei denen man schon länger kein gutes Gefühl mehr hatte. Man fühlt sich nicht einsamer, wenn man nichts mehr mit Menschen zu tun hat, mit denen man sich einsam fühlte. Na, und manchmal eben doch, mangels Ablenkung, mangels Gelegenheit, neue Freunde zu finden, und manchmal frage ich mich, ob ich nicht zu streng war.

Aber wenn ich jemanden nicht mehr ertrage (und meistens ist es ein langer Weg bis dorthin), dann lässt sich das nicht rückgängig machen, so gut kenne ich mich mittlerweile. Es ist traurig, aber wahr: Wegen mir braucht die Regierung jedenfalls keine Bewegungsradien zu schrumpfen. Die letzten der Getreuen und ich vergreisen zusammen in trauter Innigkeit. Wir gehen behutsam und respektvoll miteinander um, dosieren jedoch unseren persönlichen Kontakt zunehmend.

Wir telefonieren täglich, haben aber keine Lust darauf, uns zu treffen. Nächste Woche vielleicht. Ich bin immer noch verkatert vom letzten Mal, also von den zweieinhalb Flaschen Rosé vor ein paar Tagen zu zweit in meiner Küche. Also telefonieren wir und führen Rentnergespräche über unseren Alltag. Obwohl, Gespräche kann man es nicht nennen, unsere Äußerungen haben nichts miteinander zu tun, es sind einfach Statusmeldungen im Wechsel. Ich vermute, es geht nur darum, einander kurz zu bestätigen, noch am Leben und gesund zu sein:

  
Hallo/
Ach Hallo/
Ich habe heute ein Bad mit Salz und Duftöl genommen/
Ich war im Winskiez spazieren und habe zufällig den Rich getroffen/
Ich habe einen DDR-Bildband aus den 70ern über das Schwarzatal auf der Straße gefunden/
Auf der Jannowitzbrücke ist mir mein Fahrradreifen geplatzt/
Ich muss jetzt weitermachen/
Ja, ich auch/
Tschüss/
Tschüss.

  
Ruth Herzberg ist Schriftstellerin und wohnt in Berlin. Ihr neuer Roman "Wie man mit einem Mann unglücklich wird" ist gerade bei Mikrotext erschienen.
Ruth Herzberg (Text) und Kati Szilágyi (Illustration)

BEZE
Berliner Zeitung vom 22.08.2020 Seite 3 / REPORT
Das hier war nicht die DDR
Ruth Herzberg, Enkelin von Holocaust-Überlebenden, wuchs in der Ost-Berliner Boheme auf. Sie reiste als Kind nach Finnland, sagte immer, was sie dachte, und fand, dass West-Berlin nach Zwiebeln roch
Ich bin eigentlich gar nicht in der DDR, sondern in einer Parallelwelt aufgewachsen. Das kam so: Meine Großeltern und ihre Freunde waren Juden, hingen seit dem 2. Weltkrieg aber einer neuen Religion an: dem Kommunismus. Sie waren nach der Emigration hierher zurückgekehrt, beseelt von dem Glauben, dass der Aufbau eines besseren Deutschland möglich wäre.

Ihre Kinder wiederum, also meine Eltern und deren Freunde, hatten Fanatismus und Dogmatismus ihrer Eltern erlebt und auch deren Desillusionierung angesichts des täglichen Scheiterns des Kommunismus. Sie opponierten, wurden unangepasste Künstler oder auf andere Art dissidentisch.

Man lebte in der Hauptstadt, wo die Freiheit im Vergleich zum Rest des Landes schon immer größer war. Durch die hohen Posten der Eltern war man vor ernsthafter Verfolgung (Gefängnisstrafen zum Beispiel oder Versetzung in den Tagebau) relativ geschützt. Andererseits ging niemand ein wirkliches Risiko ein, schon allein deswegen, um die von Krieg und Diktatur gezeichneten Eltern nicht noch weiter zu traumatisieren.

Aber man war promisk, man reiste, man machte, was man wollte. Mutter erzählte von den goldenen Zeiten in den Sechzigern, als sie und Freunde, nach durchfeierter Nacht, spontan zum "Frühstücken nach Prag" geflogen waren.

Aber auch 1989 hatten wir es gut. Meine Eltern, meine kleinen Geschwister und ich wohnten in einer 7-Zimmer-Wohnung in Pankow, hatten Fensterputzer, Kindermädchen, Putzmann und trotzdem irgendwie kein Geld beziehungsweise trotzdem welches. Das spielte keine Rolle. Mit drei Kindern galt Mutter in der DDR als kinderreich und die Wohnungsmiete betrug 70 Ostmark.

Die inner- und außerdeutschen Grenzen existierten für uns eher weniger. Schon im Vorjahr hatten meine Eltern es geschafft, anlässlich eines Heiner-Müller-Symposiums Visa und Spesen für tägliche Fahrten nach West-Berlin zu bekommen. Ich selbst hatte im Alter von sechs Jahren einen ganzen Monat lang meine Oma in Helsinki besuchen dürfen, als sie dort beim Weltfriedensrat arbeitete. Auch meine beiden Onkel hatten schon im Westen unterwegs sein dürfen. In London, Paris und Brüssel, auf Kreta und Ibiza. Großmutter hatte unter anderem Kanada, die USA und Dominika bereist.

Nein, mit dem Land, in dem wir lebten, mit der DDR, hatten wir eigentlich nicht mehr viel zu tun.

Die DDR, das waren Hollywoodschaukeln, Schrankwände, Couchgarnituren und Geranien auf den mit Steuerrädern und Gartenzwergen dekorierten Balkonen. Das war Walter Womackas "Paar am Strand" an jeder Wand oder Dürers Hase oder Spitzwegs armer Poet. Die DDR, das waren die schlecht gelaunten und gewalttätigen "Vatis" meiner Klassenkameraden in weißgerippten Unterhemden, selten ohne Bierflasche in der Hand und müde von der Nachtschicht, und die schimpfenden "Muttis" in ärmellosen Plastikkitteln und mit Lockenwicklern im Haar.

Die DDR war: Kleinbürgertum, Duckmäuserei, heimliches Gemaule und schlechter Geschmack. Nichts, was aus diesem Land kam, galt in unserer Welt etwas. Godard und Truffaut waren alles. Heiner Carow und Konrad Wolf nichts.

Kompromisse waren verpönt und mir wurde beigebracht, immer zu sagen, was ich denke. Ich diskutierte also mit der Staatsbürgerkundelehrerin über Mauerbau und Meinungsfreiheit und weigerte mich, sonntags mit der Klasse zum Singen ins Altersheim zu gehen. Weil ich da lieber im Bett bleiben und lesen wollte.

Alles, was von der DDR kam oder in diesem Staat erzeugt wurde, wurde abgelehnt. Man schloss keine Ehen, ging nicht zum Frisör, nähte sich Kleider und baute sich Möbel. Ich besuchte keine AGs und war nie im Ferienlager.

Den Sommer `89 verbrachten wir in der Uckermark, im Häuschen einer Freundin. Es stand einsam auf einem Hügel, inmitten von Feldern. Solange das Korn hoch stand, also bis die Mähdrescher kamen, war man hier oben unsichtbar und abgeschieden. Zum Haus führte ein Feldweg, der auch genau dort endete. Hierhin verirrte sich niemand zufällig. Hier konnte man den ganzen Tag nackt herumlaufen. Wenn man zum See wollte, warf man sich ein Handtuch über die Schulter und folgte dem Trampelpfad der Rehe, über den Hügel und quer übers Feld. Die Sonne stach, die Grannen zerkratzten einem die Beine, man sprang ins kühle grüne Wasser und wenn man wieder beim Haus war, ging man wieder zum See, so verschwitzt war man vom Rückweg.

Besuch kam, manchmal sogar Westbesuch im Cabrio. Der brachte Haschisch mit, in kleinen silbernen Döschen. Abends veranstalteten wir spiritistische Sitzungen, rückten Gläser, beschworen Geister und gruselten uns in der Dunkelheit des einsamen Hauses. Kein Zweifel. Dies hier war nicht die DDR, dies hier war exterritoriales Gebiet.

Wir brauchten nicht nach Ungarn zu fahren, um die DDR zu verlassen. Um uns frei zu fühlen, genügte es, nackt durchs Feld zum See zu laufen, aber nicht nachts über die grüne Grenze nach Österreich.

Als in diesem Sommer die DDR-Bürger das Land in Scharen verließen, fanden wir das gut, weil es die Bonzen ärgerte, aber auch schlecht. Was wollten die denn noch alles haben? War die DDR mittlerweile nicht sowieso schon ein Miniaturkapitalismus? Mit Maracuja-Brause von Spreequell und Lizenzausgaben von The Cure und Depeche Mode auf Vinyl? Im Kino lief "E.T." und "Dirty Dancing" und im Fernsehen der DDR spätabends "Erotisches zur Nacht". Wenn das Fernsehballett beim "Kessel Buntes" auftrat, dann waren die doch mittlerweile auch nackt, nur mit Puscheln auf den Brustwarzen und Pfauenfedern auf der Scham. Das Land wurde dekadent, kam also den Wünschen der Bevölkerung doch weitestgehend entgegen, und trotzdem wollten alle in den Westen?

Wie undankbar die Leute doch waren, fand man damals im Häuschen auf dem Hügel. Einfach stumm abhauen, anstatt darum zu kämpfen, diesen Staat zu einem besseren zu machen. Ja sogar: durch Faulheit, Feigheit und Gemurre mit schuld am Scheitern des Staates zu sein. Um jetzt bei der erstbesten Gelegenheit abzuhauen.

Und wohin? Ins langweilige Österreich, um von da ins noch langweiligere Westdeutschland zu gelangen. Nein, München, Bielefeld, Frankfurt oder Paderborn waren keine Sehnsuchtsorte für uns.

Mutter fuhr dann trotzdem für ein paar Tage nach Berlin. Jetzt oder nie, dachte sie und beantragte für uns beide die Erlaubnis für eine Reise nach Strasbourg und Paris. Kurz nach dem Mauerfall kam dann der Brief. Der untergehende Staat hatte uns die Reise bewilligt. Gut so. West-Berlin roch nach Zwiebeln und blieb mir fremd. Meine Freunde durften nicht ohne Eltern nach drüben, und so stromerte ich dort allein herum. Klaute die übergroßen, mehlig schmeckenden Äpfel bei Weddinger Gemüsehändlern und Nagellack am Kudamm. Kaufte mir vom Begrüßungsgeld Marmorjeans und bereute es sofort. Fuhr mit der U8 bis zum Kottbusser Tor, verlief mich und landete jedes Mal an der Mauer, wie eine Kuh, die zurück zum Stall will. Noch Jahre später verspürte ich Erleichterung, wenn die U8 zwischen Moritzplatz und Heinrich-Heine-Straße die Grenze überquerte und ich wieder im Osten war.

Der Alltag hatte sich aufgelöst. In der Schule wussten sie nicht mehr, wie und was sie unterrichten sollten. Die Klasse steckte in den Pausen die Köpfe über der Bravo zusammen und "das Volk", dumm und dumpf wie eh und je, konnte Währungsunion und Wiedervereinigung kaum abwarten.

Im Februar `90 reisten Mutter und ich, mit neuen Pässen ausgestattet und mit mühsam zusammengeborgtem Geld, im Nachtzug Richtung Frankreich. An den Grenzen wollte niemand unsere Pässe sehen und erst recht nicht die Reiseerlaubnis. Wäre dies eine Geschichte über meine Mutter, würde ich sagen, dies war für sie ein Abstieg. Ein Privileg, das für alle gilt, ist keines mehr. In Strasbourg verloren wir unsere Identität noch mehr. Hier waren wir, was wir nie sein wollten: Ossis. Der Minderwertigkeitskomplex ist ja die Kehrseite der Arroganz. Der Kontrast zu den eleganten Franzosen war zu stark.

Hier waren wir keine Parallelweltbewohner mehr, sondern stinknormale DDR-Bürger, lächerliche Hinterwäldler, die alles anstaunten, ständig stolperten, überall anstießen, vergaßen, Bitte und Danke zu sagen, oder es im Gegenteil: viel zu oft sagten. Mit schwitzigen Fingern hielten wir unser weniges Geld umklammert und waren ständig am Umrechnen: von Ostgeld zu D-Mark zu Franc. Teuer und billig waren für uns kaum zu unterscheiden.

Nach ein paar Tagen fuhren wir von Strasbourg mit dem Zug nach Paris weiter. Paris. Hier war es anders. Hier fühlte ich mich überhaupt nicht fremd. Ich kannte es und hatte das alles schon mal gesehen: in Filmen, in Büchern, auf Fotos, auf Gemälden. Die Métro, die Champs-Élysées, das kleine Hotel an dem kleinen Platz und gleich um die Ecke waren Pigalle, Moulin Rouge und Sacré-C

Ja, genau, das hier war mein Land, meine Welt, meine Heimat. Der Ort, wo ich hingehöre, ist Paris, dachte ich. Nicht Ost-Berlin, nicht West-Berlin, nicht die DDR, nicht die BRD, nicht die Uckermark, nicht Strasbourg oder Bielefeld.

Aber es war 1990, und ich war 14. Für Braque, Picasso und Gertrude Stein kam ich zu spät, für alles andere war ich zu jung und zu arm. Wir waren und blieben Touristen, und nach einer Woche fuhren Mutter und ich nach Berlin zurück.

Zurück in Berlin war es dann endgültig vorbei mit dem Leben in der Parallelwelt. In unseren Kreisen trat man ins "Neue Forum" ein und wieder aus und trennte sich von Partnern und Freunden. Aus dem Westen tauchten die sogenannten Alteigentümer auf, und die Tage in unserer 7- Zimmer-Wohnung waren gezählt. Mein altes Leben schmolz dahin. Rückkehr unmöglich. Jeder stand allein auf Eisschollen und trieb ins offene Meer hinaus.

Die Realität griff nach mir, mit kalten, profanen Fingern. Meine Eltern schrien einander täglich an, bis sie sich endlich trennten. Wenn das Telefon klingelte, waren ehemalige Freunde dran, jetzt enttarnte Stasispitzel, durchgedreht und irre flüsternd. Mutters Regie-Karriere begann und kam rasch zum Erliegen. Ihre Unangepasstheit und mangelnde Kompromissbereitschaft galten nichts mehr und waren nun auch nicht mehr dissidentisch verklärbar. Sondern schlicht für einen geregelten bundesdeutschen Theaterbetrieb nicht zu gebrauchen. Großmutter wurde angesichts der Wiedervereinigung und der Rückkehr Großdeutschlands depressiv. Mit Recht. Es folgten die Anschläge von Mölln und Solingen und in ganz Ostdeutschland verprügelten und erschlugen Skinheads "Ausländer" und "Punks" auf offener Straße.

Ehemals linientreue Lehrer propagierten nun genauso linientreu die "Leistungsgesellschaft". Ich hasste die Schule mittlerweile noch mehr als vorher, ging nicht mehr hin, blieb erst sitzen und brach dann ab. Ich wollte mit dem neuen Staat genauso wenig zu tun haben wie vorher mit der DDR, aber nun hatte ich keine Parallelwelt mehr. Wir waren nicht mehr privilegiert.

Seither bin ich damit beschäftigt, mir neue Parallelwelten zu errichten, um leben zu können.