Wir sitzen endlich im Taxi. Er hat den Kühlschrank nicht geputzt. Eine zwei Zentimeter hohe gelbe Schleimschicht bedeckt den Boden des Gemüsefachs. Macht nichts. In einer Woche sind wir zurück. Können den Kühlschrank danach putzen. Bis dahin bleibt die Schleimschicht schön kühl und frisch. Muss man sich keine Sorgen drum machen. Meine Mutter ruft an. Sie ist schon am Flughafen. Wir sollen uns beeilen. Mama, wir sitzen im Taxi, das Taxi fährt. Mehr Beeilen geht nicht. Am späten Abend erreichen wir das Chalet im Schnee. Auf den Betten liegen dünne Polyesterdecken, weil es in den Bergen keine Daunen gibt und alle stoßen sich die Köpfe an den Dachschrägen. Die Dächer sind schräg, wegen des Schnees und der Lawinen. Schwerer Schnee würde ein Flachdach statisch zu sehr belasten. Aber es liegt kein Schnee. Nur auf den Skipisten. Die Skikanonen spucken Schnee. Wie unendlich kotzende Urwürmer. Die Berge sehen aus wie Müllberge, in schmutzigbraun, schmutziggrau und schmutziggrün. Meine Mutter findet es wunderschön. Am nächsten Tag versucht mein Mann mir Skifahren beizubringen. Eine Frau steht neben uns an der Bank, auf der ich mich in die Skischuhe zwänge und mir die Ski an Füße pappe. Sie schaut zu und lächelt. Ich hasse sie. Kann die Schlampe nicht woanders hinsehen? Ich schnalle die Ski ab und gehe weg. Hier gibts nichts zu glotzen. Mein Mann kommt hinterher und versteht mich nicht. Als ich die Ski anhabe, beginne ich sofort zu rutschen. Mein Mann schreit mich an. Schneepflug machen! Bremsen! Ich mache den Schneepflug, aber das nutzt nix. Ich rutsche und lasse mich sicherheitshalber fallen. Mein Mann zieht mich hoch und will mit mir zum Skilift. Grüne Piste. So hat er ja auch schwimmen gelernt. Sein Vater hat ihn mit drei einfach ins Mittelmeer geschmissen. Ich weigere mich. Mein Mann fährt alleine mit dem Lift weg, geht Skifahren, macht Parallelschwünge, Freeride und Carving und ich rutsche allein so ein bißchen auf dem Abhang rum, es klappt ganz gut. Am nächsten Morgen hat mein Mann für meine Mutter und mich, einen Skilehrer organisiert. Der fragt nach unseren Vornamen und was ich beruflich tue. Schreiben. Haha, dann kann ich ja eine Geschichte übers Skifahren schreiben. Dann soll ich ihn ansehen und nicht die Ski und ich soll lächeln und singen. Er will mich locker machen, (ja, ich verstehe nämlich auch ein bißchen was von Pädagogik), aber ich mag keine Lehrer. Der Skilehrer ist alt und hat rote schuppige Haut. Zu viel Frost. Meine Mutter fällt nicht so oft hin wie ich. Ich schäme mich für sie. Für ihre Tapferkeit, kindliche Beflissenheit und ihren Willen zur Selbstaufgabe. Sie macht alles, was der Skilehrer sagt. Ich will nicht mehr. Ich fahr den Lift nicht noch mal rauf. Ich schnall die Ski ab. “Nicht aufgeben!” ruft der Lehrer. „Das find ich nicht gut.“ sagt meine Mutter. Aber ich gebe nicht auf. Ich lehne ab. Alles. Diese ganze Industrie. Diese Plastikschuhe. Das Gegrinse, den Sportsgeist, diese Philosophie von Weitermachen, das Zack Zack, den SPASS. Nicht mein Ding. Ich schnalle ab und lege mich vor den Kamin. Jeden Morgen um zehn schleppt sich meine Mutter mit kläglichem Gesicht zum Unterricht. Warum? Es sei wichtig “durchzuhalten”, sich etwas abzufordern, etwas zu machen. Mein Mann ist mir böse. Was das alles gekostet hat. Die Ski! Der Unterricht! Ich habe ihn ja nicht drum gebeten. Ich wollte zu Hause bleiben. Alleine! Nachts Ski fahren durch die Bars, tags Ski fahren durch die Träume. Abends in Unterhosen vor dem Rechner sitzen und Milchreis essen. Im Wohnzimmer rauchen. Pornos gucken. Alles verschwenden.
Nach drei Tagen kaufen wir endlich Schnaps. Die Stimmung hebt sich. 40 % aber trinkt sich weg wie Wein, weil so süß. Totale Wirkung. Besonders gut zusammen mit dem guten Lidocain Hustenspray, das man hier in der Pharmazie rezeptlos erhält. Ich sitze mit den anderen Verletzten (Kreuzbandriss, gebrochene Rückenwirbel, Thanatos und Syphilis) in der Sonne auf der Terrasse vorm Hotel und schaue auf die Piste. Noch auf 1 Kilometer Entfernung ist meine tapfere Mutter zu erkennen. Von Kopf bis Fuß verkrampft, die Arme weit ausgestreckt, rutscht sie im Schneckentempo den Berg runter. Ich bewundere sie. Am Abend gehe ich mit meinem Mann in die Sauna und danach trinken wir Bier und sehen in der Bar vom Hotel gegenüber fern. Bisheriger Höhepunkt des Skiurlaubs. Mein Mann ist weniger zufrieden. Warum war der Boden der Sauna nicht aus Naturstein? Warum standen da Kunstpflanzen und keine echten Pflanzen? Warum ging der Hamam nicht? Weil wir hier nicht in Chamonix oder Kitzbühel sind, sondern nur in einem ganz süßen kleinen Alpendorf, Papa. Er denkt einfach zu viel nach.
Dann passiert es endlich, das Unvermeidbare. Meine tapfere Mutter stürzt und kugelt sich die Schulter aus. Wird von der Piste in einer Trage abtransportiert. Mit Krankenwagen weggebracht. Hat starke Schmerzen und ihr Gesicht ist so weiß wie ihre Haare. Ich komme natürlich mit. Als Psychostütze und Übersetzerin. Im Krankenwagen wird mir schlecht. Die ganze einstündige Fahrt lang muss ich fast kotzen, aber ich muss nicht kotzen. Bin sehr stolz auf mich. Im Krankenhaus kugeln sie sie wieder ein und dann müssen wir in der Krankenhauscaféteria auf meinen Mann warten. Später werden wir darüber lachen, sagt meine Mutter und zitiert Heiner Müller: “Alle Wirklichkeit ist Material.”
“Wieso verdrehst du die Augen?” fragt sie mich. Ich atme aus. Puuuhhhh. “Das sind doch Geschichten. Da lebst du doch von. Oder auch nicht.” Ich antworte nicht. Ich versuche den Schuldigen zu ermitteln, an meiner Situation. Dass ich jetzt hier in einem Krankenhaus sitzen muss und nicht auf der Terrasse oder am Kamin sein kann. Ist der Skilehrer schuldig, der eine alte Frau auf die vereiste Piste geschleift hat, obwohl er doch hätte merken müssen, dass sie es nicht drauf hat? Wozu gibts denn diese dummen Sprüche: “Einem alten Esel bringt mans Tanzen nicht mehr bei.” “Wenns dem Esel zu wohl ist, geht er aufs Eis tanzen?” Oder ist mein Mann schuld, weil er Material und Lehrer mietete und meine Mutter ihn nicht enttäuschen wollte, so wie ich? Oder ist meine Mutter schuld, mit ihrem verdammten Durchhaltewillen? Für die drei ist es einfach nur “Pech”, für mich die längste Praline der Welt. So ist das Leben. Als wir zu Hause ankommen, putze ich als erstes den Kühlschrank. Die Schleimschicht ist so kalt wie der Kunstschnee auf den Alpen, aber ich muss sie ohne Handschuhe anfassen.