TRIGGERWARNUNG

Wenn ich durch die Gegend fahren muss, in der er damals gelebt hat, spüre ich inzwischen kaum noch was, aber das war mal anders. Ich im ICE, aber seine Berge am Horizont und ich zitterte, bangte um mein Seelenheil. Von Frankfurt bis Straßburg war alles kontaminiert.

Schon die Erwähnung gewisser Städtenamen – L.A., Rom, Turin, Malmö, Stockholm, Amsterdam, Göteborg, Hamburg, Darmstadt… 

Ja sogar die von Ländern: Schweden, Italien, Frankreich, Dänemark, die in meiner Erinnerung durch seine Erzählungen mit ihm verknüpft waren, konnte mir komplett den Boden rausziehen, mich tagelang in Abgründe von Seelenschmerz und Selbstmitleid treiben.

Ich habe inzwischen einen neuen Freund, mit dem ist es viel weniger schlimm, aber trotzdem sehr sehr sehr schlimm.

Weswegen es nötig ist, dass ich tagelang, wochenlang, monatelang das Bett hüten muss. Bei geschlossenen Vorhängen in absoluter Stille. Komplett von der Außenwelt und ihren Triggern abgeschlossen. 

An Rausgehen, gar Teilnahme am Alltagsleben ist nicht zu denken.

Weil ich fürchte, plötzlich mitten im REWE beispielsweise, zusammenzubrechen. 

Denn es könnte doch sein, dass ich mich wegen eines Momentes der Unachtsamkeit vor dem Weinregal wiederfinde, Auge in Auge mit einer Flasche MONTEPULCIANO beispielsweise und dadurch eine Kaskade des Allerschlimmsten in mir angestoßen wird und mir schwarz vor Augen. 

Und nur die Vorstellung der Schande eines öffentlichen Zusammenbruchs mich dann noch aufrecht hält und wenigstens dahingehend handlungsfähig, den Einkaufskorb sofort abzustellen und den Ort zu verlassen, bevor mein Schädel auf den Bodenfliesen aufschlägt und ich gegebenenfalls per Notarzt gefesselt auf einer Liege in die nächstliegende Nervenheilanstalt abtransportiert werden muss. 

Dabei ist mein Freund ja wirklich hundertmal lieber als sein Vorgänger, aber trotzdem noch bösartiger als er, falls sowas möglich ist, oder aber außerordentlich dumm. Sowas kann man manchmal nur schwer auseinanderhalten und ich sowieso nicht.

Wir treffen uns aber sehr gern, denn es ist jedesmal wunderschön. Die Begegnung ohnegleichen fantastisch. Jedenfalls, bis ich nach 12 Stunden ununterbrochener Aneinanderreibung erschöpft darum bitte, den Finger aus seinem Po ziehen zu dürfen und ich daraufhin von ihm als geisteskranke Borderlinerin bezeichnet werde, die ihm gefügig zu sein habe. Denn jetzt sei ER mal dran. 

Woraufhin ich mir unter Tränen weiterhin sehr viel Mühe gebe, ihm zu Willen zu sein, aber er ist ums Verrecken nicht zufrieden zu stellen. 

Nach unseren Kollisionen leidet er unter Muskelkrämpfen, ich unter Hirnschmelze und Selbstmordgedanken. 

Wenn wir uns ein paar Tage später auf neutralem Boden zum Kaffeetrinken treffen, ist es meistens erst ganz witzig. Ich kuschel mich in seine Arme und dann erzählt er mir eins oder alle seiner drei Märchen:

Das vom Traumfänger, das von der Windharfe, das von den Spiegeln, oder das von der Nachbarin und dem 50 Markschein.

Wenn ich mich dann wohl fühle, fängt er mit einem seiner Monologe an. Was ich für ein gestörter Mensch sei, was ihm an mir alles nicht gefällt, usw, usf. und jetzt sei ER mal dran, denn jetzt gehe es mal um ihn und nicht immer nur um MICH und außerdem muss er jetzt los, sonst kommt er zu spät usw, usf. 

Anstatt cool zu bleiben, breche ich direkt nach seinem Abgang in Tränen aus und verlege mich anschließend in den offenen Vollzug. 

Eine Weile geht alles gut. Bis ich mich gehen lasse und Spaß habe. 

Danach kommt das Tief. 

Über Wochen schrecke ich nachts schweißgebadet aus dem Schlaf. Die Einsamkeit in der Villa lässt mich Gespenster sehen.

Türen knarren und bewegen sich, obwohl es absolut windstill ist. Das Licht im Gästebad flackert. Direkt neben meinem Ohr atmet ein Unsichtbarer scharf ein.

Vom Dachboden her hört man Ketten klirren. Kurz nach Mitternacht klingelt es mehrmals nachdrücklich an der Haustür. Im Morgengrauen klopft jemand von außen an die Fensterscheibe meiner Mansarde.

Beim Spazierengehen am Vormittag, blicke ich neidvoll und schmerzerfüllt auf die zufriedenen Religionslehrerehepaare in meiner Umgebung.

Die schlendern händchenhaltend die Kastanienallee rauf und runter, schlecken an Eistüten. Bleiben zwischendurch stehen, um einander Küsschen zu geben. Einfach so! Obwohl sie sich gar nicht voneinander verabschieden!

Als sich mir wieder eins dieser Paare in den Weg stellt, sprinte ich wie von der Tarantel gestochen, im Schweinsgalopp zurück zum Parkplatz. Klaube zittrig den Autoschlüssel aus meiner hautengen Jeans, brauche mehrere Anläufe ihn ins Schloss zu drücken, bis mir einfällt, dass ein Knopfdruck genügt.

Die Tür des Wagens springt auf, ich setze mich ans Steuer und kurve in atemberaubendem Tempo nachhause. Bringe den Wagen mit quietschenden Bremsen vor der Garageneinfahrt zum Stehen.

Rase die Freitreppe nach oben, nehme die Abkürzung über die Terrasse, durch die Bibliothek ins Büro, setze mich an meinen Schreibtisch, öffne das Geheimfach und hole den Revolver raus.

So vergeht die Zeit. So vergehen die Jahre. 

Das Schlimmste an der Sache: 

Ein Ausweg ist nicht in Sicht. Es gibt keinerlei Perspektive oder Alternative zu diesem Leben. Es ist endlose Qual und ewiger Schmerz.

Das Telefon blinkt in der unterstern Schublade meines Nachtkästchens lautlos vor sich hin. Nie wieder werde ich es in die Hand nehmen können, denn mein Freund schickt mir Selfies von sich und seinen Gespielinnen, mit denen er die Wochenenden anstatt meiner verbringt.  

Er ist auch nur ein Mann und hat als solcher nun mal nen Hang zum Küchenpersonal.

Also zu Frauen auf seinem Niveau. Da kann ich nicht mithalten.

Deswegen liebt er mich nicht, sondern seinesgleichen. Also Subalterne. 

Krankenpflegerinnen, Hilfsschwestern, Zimmermädchen, Masseusen, Kindergartenerzieherinnen und überhaupt alles, was in der Gastronomie, im Verkaufs- und Sozialwesen, Kunsthandwerk oder dergleichen tätig ist. 

Denen verspricht er die Heirat, sowie ich ihn aus den Augen lasse. 

Ich kann ihn verstehen: 

Sowie sich mir eine brauchbare Option anböte, würde ich mit Freuden überwechseln. Aber es gibt weit und breit kein brauchbares Material. So bleibe ich in den Krallen des Widerlings hängen und werde von ihm nach Belieben fallen gelassen und wieder aufgeklaubt. Auf ewig unerlöst.

Um so wichtiger ist mir der einzige Mann in meinem Leben, mit dem ich gern Zeit verbringe. 

Professor Doktor Waldemar Kowollik, großgewachsen und muskulös. Mit verträumten himmelblauen Augen und einer prägnanten Nase, erfolgreicher Schönheitschirurg und Art Director, humorvoll, charmant, sexbesessen, potent, wohlhabend, souverän, integer, hervorragend proportioniert und außerdem unverschämt gutaussehend.

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