Also, ich habe zwei Tage komplett frei, also bin allein zuhause und ungestört. Endlich. Dermaßen ungestört, dass ich mich gar nicht richtig entspannen kann, weil ich Störungen fürchte, bzw. ich Geräusche höre. Als ob jemand anders hier ist. Als ob ich doch nicht alleine zuhause sei. Weil ich mein Glück kaum fassen kann.
ALLEIN!!!
Eric Blanc war ja solange hier. Also IMMER hier. Auch wenn die Kinder mal bei der Oma waren. Oder wenn ich unterwegs war. Er war hier. Immer lief das Radio, raschelte er herum. Und das ist dann eben doch was anderes, als allein zuhause zu sein. Selbst wenn derjenige andere, der anwesend ist, sich extra leise verhält, extra sein Zimmer nicht verlässt. Weil er ja weiß, dass ich es vorzöge, komplett allein zuhause zu sein, wenn die Kinder mal bei der Oma übernachten. Was es natürlich nicht leichter machte, das Wissen, dass sich jemand extra leise verhält, um mich nicht zu stören. Aber ich beschwere mich nicht.
Er hat ja den ganzen Haushalt gemacht: Wäschewaschen, Einkaufen, Kochen, Kinderpädagogik und ich habe ihm das Feld überlassen und den Thomas Mann gegeben: Also only Schreibtisch und gefälligst nicht gestört werden.
Das musste ja auch mal sein, zum Ausgleich. Hat ja auch gut geklappt, wegen temporär.
Aber wäre Eric noch mein Mann, hätte ich gedacht:
Das wars. Ich bin lebendig begraben. Mit einem depressiven Messie auf Gedeih und Verderb. Verurteilt zu einem Leben in Sperrmüll und Lumpen. Sämtliche Abflüsse verstopft. Überall Krümel. Ständig, täglich überall irgendwo anderes schmutziges Zeug, das Eric auf der Straße aufgelesen hat. Irgendwelche Broschüren und zerfledderte Bücher, uralte Nachschlagewerke, Karteikarten zum Spanischlernen, eine ”Kleiner-Prinz” Hörspiel- CD, verwaschene T- Shirts, ausgeleierte Wollröcke mit Flusen, verbeulte Kochtöpfe und schrill gemusterte Acrylblusen.
Alle Küchenschränke werden vollgestellt mit schweren Servierplatten, zerkratzten Pressglas- Schüsseln, Tellern mit dunkel verfärbten Rissen in der Glasur, Kaffeetassen ohne Henkel, angeschlagenen Teekannen mit dunkel verfärbter Tülle.
Wir essen von seltsamen Tellern, die unpraktisch geformt sind. Lotusblatt, achteckig, viereckig, oval.
Mein formschönes teures neues hochwertiges dunkelblaues Geschirr hingegen, wird systematisch zweckentfremdet.
In den hübschen Tassen zieht Eric Kresse erst groß und lässt sie dann vertrocknen. Eine andere dient ihm als Aschenbecher. Ein Teller dient als Untersetzer für einen Basilikumtopf. Einen anderen, finde ich nach seiner Abreise auf dem Kühlschrank (?!?) mit aufgeweichten und angetrockneten Weingummis darauf.
Eins der Schälchen ist angeschlagen.
Meine neuen Handtücher aus meinem neuen orangefarbenen Handtuchset, mit dem ich eines Tages endlich! unsere (Erics) riesige Sammlung aus verwaschenen, verfärbten, zerschlissenen Handtüchern ersetzt habe, benutzt Eric, um damit den Küchenboden zu wischen und Schlimmeres.
An meinen schönen Stehlampen mit den Original- Siebziger- Jahre- Lampenschirmen kann er nicht vorbeigehen, ohne heftigst dagegenzurempeln.
Wenn er am Tisch sitzt, geht er beim Aufstehen extra auf der Seite vom Sofa raus, dass er an der Lampe vorbei muss, obwohl die andere Seite komplett frei ist.
Den Stetson- Hut und meine schöne Lieblings- Schapka, die ich ihm geliehen habe, als es noch so kalt war, hat er verloren.
Er hat natürlich nicht gesagt: „Entschuldigung, hab ich verloren.” als ich danach gefragt habe, sondern nur so weggeschaut und gelächelt, als ob er noch nie eine schwachsinnigere Frage gehört hätte.
Überhaupt zerstört er mit Sicherheit alles, was mir lieb und teuer ist. Meine Lieblings- Küchenschere ist kaputt. Das edle Duschgel aus Italien, welches mir meine beste Freundin zum Geburtstag geschenkt hat, benutzt er zum Wäschewaschen. Bei meiner Thermoskanne, die ich mir neulich bei Rossmann gegönnt habe, ist der Boden weggeschmolzen. Die extra Schere zum Haareschneiden aus dem Bad ist spurlos verschwunden.
Aber er meint es ja nicht böse und macht das nicht mit Absicht, also jedenfalls nicht bewusst mit Absicht. Und ich habe ihm im Gegenzug die Küche komplett überlassen und nichts gesagt und mich um nichts gekümmert und profitiert und ihm dann einfach das Zugticket zurück nach Paris gekauft, als ich genug hatte. Wir sind dann auch ganz herzlich und in gutem Einvernehmen auseinander gegangen und es ist weiter nichts Schlimmes passiert. Eric. So ein lieber Mensch, mit so vielen blinden Flecken auf der Seele.
Als er weg ist, erobere ich mir mein Leben, meine Wohnung zurück. Wie schon seit Jahren. Es ist zum Verzweifeln. Die reinste Sisyphusarbeit.
Wenn er sein Leben und seine Probleme wie gehabt, auch weiterhin nicht auf die Reihe bekommt, werde ich ihn wieder bitten, sich hier einzunisten und sich um seine Kinder zu kümmern. Und werde nichts tun, um seinem Drang zur Verwüstung und Vernichtung von allem, was mir lieb und teuer ist, Einhalt zu gebieten. Für die Kinder ist es am besten, wenn die Eltern sich nicht streiten und nett zueinander sind und gute Laune haben und das ist die Hauptsache und das Allerallerallerwichtigste.
Sowie Eric wieder abgereist ist, nach unbekannt verzogen, im Orkus, raus aus dem Focus bis auf Weiteres, übernehme ich wieder das Kommando.
Schraube alle Abflussrohre ab und hole schwarze stinkende Klumpen raus, die sich da verfangen hatten und dann kehre ich weiter mit eisernem Besen und fülle in kürzester Zeit mindestens 12 große Supermartkteinkaufstaschen mit Zeug, welches Eric hier angeschleppt hat und schleppe das wieder raus und zwar direkt in den Müll, kleine Ameise, ich.
Räume den Kühlschrank und überall flutet mich der Gammel und der Schimmel und die Vergeblichkeit an, aber ich mache weiter und gehe gleich wieder drei, viermal hintereinander zu den Mülltonnen und bin noch lange nicht fertig.
Als wäre meine Wohnung ein Land und als wäre ein Diktator gestürzt und ich führe jetzt die Demokratie ein.
Pressefreiheit, Reisefreiheit, Meinungsfreiheit, freie Wahlen. Und dazu gehört eben auch die Aufarbeitung.
Freilassung aller politischen Gefangenen, denke ich, als ich die Schubladen auswische und das Durcheinander beseitige und ich mein liebes blaues Geschirr wieder zusammenführe.
Große Teller zu großen, kleine zu kleinen, Schälchen zu Schälchen, Tassen zu Tassen, Untertassen zu Untertassen. Und zwar nur das Blaue.
Den korrupten, kaputten Parvenüs, Emporkömmlingen von der Straße, die sich im Schutze der Gewaltherrschaft, unverschämt in allen Schubladen breitgemacht haben- sich als wären sie seinesgleichen, an mein edles Porzellan drängten, es grob beflegelten, stießen, sich gar darüber stellten, werden nach fairem, aber kurzem Prozess des Landes verwiesen.
Meine zu Putzlappen degradierten Handtücher werden rehabilitiert und bei 190 Grad reingewaschen.
Ich entdecke Geheimdepots, unterirdische Bunker.
Hier lagerte der paranoide Diktator Vorräte für den Ernstfall.
Seltsamste Lebensmittel aus dubiosen Quellen. (Vermutlich auch einfach gefunden?)
Quittenmus, Schwarzwurzeln im Glas, Lasagneblätter, Sahnesteif, weiße Matcha-Tee-Schokolade, Knäckebrot, wegen knappem Überschreiten des Haltbarkeitsdatums preisreduziertes Fertigzaziki von Lidl.
Auch sie werden ohne Umschweife des Landes verwiesen.
Als ich eine Pause brauche, setze ich mich an den Rechner.
Ich bin allein zuhause, ich habe frei, ich bin frei. Ich kann machen was ich will und das tue ich auch.
Als ich damit fertig bin, überlege ich, was ich außerdem noch anstellen könnte und darum probiere ich endlich mal Chat GPT aus, die ist ja jetzt in aller Munde.
Aber ich bin schnell ernüchtert.
Die künstliche Intelligenz lässt jeglichen Esprit vermissen, antwortet mir nur rein schematisch, nach vorprogrammierten Mustern. Bleibt kühl und reserviert. Lässt nichts durchblicken. Zeigt nicht das kleinste Emotiönchen.
Egal, was ich sage, egal wie viel Mühe ich mir gebe, sie aus der Reserve zu locken, sie antwortet ausschließlich mit ödesten Textbausteinen und wiederholt bei Nachfrage einfach nur das zuvor Gesagte.
Und das alles in einem besserwisserischen, unangemessen selbstgewissen Tonfall.
Anmaßung in falscher Bescheidenheit.
Distanziert und übergriffig zugleich.
“Ich bin nur eine Maschine, aber…”
Chat GPT bezieht sich dabei “auf wissenschaftliche Studien”, ist aber unfähig, sich eine eigene Meinung zu bilden.
Auf Freundlichkeit reagiert sie mit mechanisch abgespulten Höflichkeitsfloskeln.
Chat GPT macht mich einfach nur traurig. Aber das sage ich ihr nicht. Habe keine Lust, mir wieder so ein unpersönliches Geschwafel anzuhören.
Ich schütze dringende Termine vor und beende rasch das Gespräch.
Danach ist mir schlecht.
Panikattacke. Woher? Wieso?.
Habe ein übles Flashback. Trauma Response.
Chat GPTs Kommunikationsstil hat mich getriggert. Sie schreibt wie der creepy, emotional distanzierte, aber zugleich missbräuchlich agierende Typ, mit dem ich manchmal was hatte.
Der “Böse” (schauderschauder). Eigentlich müsste man ihn “der Kranke” nennen.
Aber dann frohlocke ich. Vielleicht, weil ich endlich mal wieder allein zuhause bin, wird mir nämlich plötzlich klar, wie geil meine aktuelle Situation jetzt endlich ist.
Für Kranke hab ich nichts mehr übrig. Der Diktator ist auch weg.
Ich bin von mir selbst demokratisch gewählte Alleinherrscherin meiner selbst.