Zwiebel, Flippi, Gerold, das Genie und ich. Das sind wir, die Schlürfdichter. Die weltberühmte Lesebühne gibt es schon seit 50 Jahren. Es ist ein ganz gewöhnlicher Mittwochabend im Februar. Draußen ist Eisschneeregen bei Windstärke sieben, drinnen ist die Heizung kaputt, aber das macht nichts, wir wärmen uns am Zigarettenrauch. Es ist ein ganz besonderer Abend. Gerold hatte mal wieder keine Lust zu kommen und wird nun von einer Gastleserin vertreten. Sie heißt Penthesilea und kommt aus Reinickendorf. Zwiebel, Flippi und ich sprechen grundsätzlich nicht mit Gastleserinnen, dafür wird sie vom Genie sexuell belästigt. So gleicht sich alles aus. Unser Publikum besteht wie immer aus arbeitslosen Rentnern, Frührentnern und Vorfrührentnern. Alle tragen den Schwerbehindertenausweis am goldenen Band und haben ermäßigten Eintritt bezahlt.
Die Stimmung ist familiär. Wir kennen unsere sieben Gäste schon lange. Die grauhaarigen Frauen sind nur wegen des Genies da, haben vor Jahren mal eine Nacht mit ihm verbracht, warum die anderen da sind, wissen sie selbst nicht so genau. Gewohnheit. oder der Mangel an Alternativen, oder weil wir die einzigen in der Stadt sind, die noch Rabatt beim Vorzeigen eines Schwerbehindertenausweises gewähren.
Pünktlich um 23:30 wollen wir anfangen. Wir können uns wie immer nicht einigen, wer die Anmoderation macht. Nach einem Handgemenge wird Zwiebel von uns ans Mikro geschubst. Er wischt sich die Tränen fort, setzt sein Markenzeichen, die rote Zipfelmütze wieder auf, (die hatten Flippi oder Genie ihm im Handgemenge vom Kopf gerissen)
Während Zwiebel das Publikum begrüßt, gehen Flippi, das Genie und ich auf die Toilette. Vielleicht ist es Zwiebels Stimme, vielleicht ist es die Aufregung, dass es jetzt losgeht, jedenfalls, wir müssen mal und zwar sofort. Also die anderen müssen. Ich stehe einfach ein bißchen im eiskalten Flur herum und gucke, ob jemand meinen Facebookstatus geliked hat. Niemand. Also nur die eine, die sowieso immer alles liked und die ich nicht kenne.
Durch die Tür höre ich Zwiebel erst herumstottern und dann verstummen, dann kommt Beifall. Er hats mal wieder geschafft. Anmoderieren ist doch gar nicht so schwer. Wir gehen wieder rein und verbeugen uns und nun ist das Genie dran und “macht” den ersten Text. Bevor es anfangen kann, muss es aber seine Brille noch finden, und den Text noch finden, seinen Hosenstall zumachen und sich die Schnürsenkel zubinden.
Frührentner im Publikum, Frührentner auf der Bühne. Es wird gekifft. Grasduft durchströmt den Raum, wahrscheinlich in der Hasenheide gekauftes Zeug, mit Glasscherben und Rosmarin gestreckt. Ich mache den Fehler, auch mal am Joint zu ziehen
und habe nun Lust zu kotzen, einfach um mich wieder besser zu fühlen, aber jetzt traue ich mich nicht mehr rauszugehen, also versuche ich den Kotzreiz wegzuatmen und mich auf den Text vom Genie konzentrieren. Ich habe ihn schon sehr sehr oft gehört, (das Genie ist sehr stolz auf diesen Text und liest ihn eigentlich fast immer vor), aber ich verstehe ihn auch dieses Mal nicht.
Wie kleingedruckte allgemeine Geschäftsbedingungen fliegen mir die Wörter um die Ohren, ich verhake mich in den seitenlangen Sätzen, möchte andauernd “Hä?” schreien und “Wa?”
Der Text ist aber supergut, das Genie macht so viele Anspielungen. Auf das alte Ostberlin, die Westberliner Theaterszene, längst geschlossene Bierbars und Weinrestaurants, Kohlegeruch, Rauch, Bier, Glasscherben, und die Probleme, die sich für das Genie aus der verspäteten Überweisung seiner Invalidenrente ergeben.
Im Publikum wird herzhaft gelacht. Besonders gut kommt immer die Stelle mit dem Pudel und dem fehlenden Kleingeld beim Pankower Aufbackbäcker.
Applaus brandet auf, das Genie verbeugt sich und verlässt die Bühne. Mir ist immer noch schlecht, aber ich bin jetzt dran. Ich hasse alle. Kein einziges spritziges Wort sage ich zu den unruhigen Zuhörern, lese einfach los und bemerke erst jetzt, wie schlecht ich schon beim Schreiben draufgewesen sein muss.
Ich hatte meinen Text für fluffig und witzig gehalten, stattdessen handelt es sich um einen Aufruf zum Terror und eine apokalyptische Vision der Welt nach dem dritten Weltkrieg. Die detaillierte Beschreibung einer Vergewaltigung ist mir eventuell etwas zu lang geraten (dreieinhalb Seiten) und ich hatte auch gedacht, dass die Schilderung der Ereignisse auf dem Greifswalder Busbahnhof am 4. Mai 1952 aus der Perspektive einer halbtoten Möwe fesselnd und witzig wären, aber ich spüre am erschlafften und dennoch geduldigen Atem des Publikums, dass der Funke nicht überspringen will.
Auch die Schlusspointe, – die Beschreibung meines fast nicht gescheiterten Selbstmordversuchs in einem Basler Hotelzimmer, kann den Text nicht mehr retten.
Mitleidige Blicke treffen mich und der Beifall ist mehr als höflich. Zum Glück tritt als nächstes unsere Spaßbombe Flippi auf. Flippi hat schon Stadien zu regelrechten Lachorgasmen getrieben, ohne Flippi könnten wir einpacken, ohne Flippi hätten sie uns schon längst verboten. Flippi bringt den Laden wieder in Schwung. Selbst ich muss lachen, wenn er vorträgt, wie er auf einer Bananenschale ausgerutscht ist, oder wie er sich mal als Frau verkleidet hat und dann Schuhe kaufen gegangen ist, oder wie ihn seine Freundin beim Pornogucken erwischt hat und welche witzigen Ausreden er dann hatte.
Nach Flippis Auftritt ist im wahrsten Sinne des Wortes kein Auge trocken geblieben und dem etwas strengeren Geruch nach zu urteilen, auch so manche Hose nicht. So macht es Spaß, danke Flippi!
Jetzt ist unsere Gastleserin Penthesilea dran. Sie ist in ihrer Schrebergartensiedlung in Reinickendorf für ihre poetisch- erotisch- lautmalerisch- experimentellen Gedichte weltberühmt. Sie schwebt ans Mikro und noch bevor sie etwas gesagt hat, könnte man eine Stecknadel zu Boden fallen hören, so still ist es im Raum. Sie lässt nun tatsächlich eine Stecknadel zu Boden fallen und leitet mit diesem feinen Geräusch ihren Vortrag ein.
Es handelt sich um ein poetisch- erotisch- lautmalerisches -experimentelles Gedicht, in dem es viel tropft und spritzt und Kerzenwachs und glatte Haut und Du und das Herz und Augen und Hand und wieder Tropfen und sogar ein glattharter Penis und eine feuchte V und eine Vereinigung im Morgengrauen.
Sie bekommt fast noch mehr Applaus als Flippi und das will was heißen. Nun ist der Abend auch schon fast vorbei. Nur Zwiebel muss noch mal ran.
Da er hauptberuflich Professor für Mathematik ist, wohnt seinen Texten sehr viel Logik inne. Zwiebel beweist auch heute mal wieder höchst eloquent den Eulerschen Quantendreisprung durch einen Vergleich von Pelikanen und Störchen, überträgt die Gaus`sche Parallelreihenfrage auf geparkte Autos und erheitert mit einer Graphenberechnung im reziproken Vortex.
Dann ist es vorbei, wir haben es wieder mal geschafft einen Beitrag zum Kulturleben der Hauptstadt zu leisten.
Mir ist jetzt auch fast gar nicht mehr übel. Wir schreien uns noch etwas in die Ohren und rauchen uns gegenseitig die Zigaretten weg. Als Flippi mal nicht hinguckt, schaffe ich es, ihm fünf HB Menthol light aus seiner Packung zu klauen, dafür gibt mir das Genie das Wechselgeld nicht raus, als er mir eine Rhabarberschorle von der Bar mitbringt.